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Blog der Deutschen Sportakademie

Gewichtsneutrale Medizin: Medizin jenseits der Waage

von David Klinkhammer, 05/25, Lesezeit: 6 Minuten

Der Gang zum Arzt ist in der Regel nie einfach. Ob leichte oder schwere Krankheitssymptome, die Diagnose kann oft schwierig sein. Selbst bei Routineuntersuchungen können bisher unentdeckte Krankheiten festgestellt werden. Mit diesen Ängsten wünscht man sich vom Arzt seines Vertrauens auf der emotionalen Ebene Einfühlungsvermögen und auf der rationalen Ebene eine zielgerichtete und ganzheitliche Behandlung. Es wäre fatal, wenn wir aufgrund von Vorurteilen den Arztbesuch meiden und dadurch Untersuchungen und Behandlungen unterbleiben. Dies ist leider immer häufiger der Fall, insbesondere bei Patienten mit bestimmten Merkmalen, wie z.B. Übergewicht.

Die gewichtsneutrale Medizin fordert eine Neutralität in der Behandlung übergewichtiger Patienten. Das Thema polarisiert und hat, wie könnte es anders sein, seinen Weg in die sozialen Kanäle gefunden. Gegner des Ansatzes sehen die Gefahr, dass die gesundheitlichen Nachteile von Übergewicht verharmlost werden. Befürworter plädieren dafür, Patienten nach ihrem Lebensstil und nicht nach ihrer Körperform zu beurteilen. In diesem Blogbeitrag gehen wir der Sache auf den Grund und geben eine objektive Einschätzung zu diesem sensiblen Thema.

Arzt verschränkt Hände vor der Brust

Was bedeutet „gewichtsneutral“?

Gewichtsneutrale Medizin setzt sich für eine vorurteilsfreie Diagnostik und Behandlung ein. Die Entstehung des Begriffs ist eine Folge der Gewichtsstigmatisierung, die adipöse Menschen in Gesundheitseinrichtungen immer wieder erfahren. Gewichtsbezogene Stigmatisierung liegt immer dann vor, wenn Menschen mit Adipositas negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Dazu gehören Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung. Übergewichtige Menschen machen diese Erfahrungen in vielen Lebensbereichen. Insbesondere wenn diese Eigenschaften verinnerlicht werden, kann dies zu medizinischen und psychischen Beeinträchtigungen führen (Hilbert & Puls, 2024).

Nach der gewichtsneutralen Medizin sollen gesundheitsfördernde Verhaltensweisen wie ausgewogene Ernährung, Bewegung, Stressreduktion und Schlaf im Mittelpunkt der medizinischen Behandlung stehen. Die Veränderung des Körpergewichts spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Dieser Ansatz geht unter anderem auf das Health at Every Size"-Modell (HAES) zurück, das Anfang der 2000er Jahre entwickelt wurde und mittlerweile von zahlreichen Fachverbänden unterstützt wird. Hier zeigt sich der große Unterschied zur schulmedizinischen Praxis, die bei vielen Krankheitssymptomen eine Gewichtsreduktion empfiehlt, ohne den Betroffenen genauer untersucht zu haben.

Gesundheit jenseits des BMI

In unserer Podcast-Episode zur gewichtsneutralen Medizin Bizeps und Bananenbrot stellen Matti und ich ein Dialogbeispiel vor, in dem eine Patientin mit unspezifischen Beschwerden wie Müdigkeit, Schwindel und Konzentrationsproblemen konfrontiert wird - und ohne weitere Diagnostik ihr Gewicht als Ursache vermutet wird. Da die Beschwerden nicht weiter abgeklärt werden, ist dieses Vorgehen nicht nur medizinisch fragwürdig, sondern auch gefährlich. Studien belegen, dass Symptome wie die oben beschriebenen, bei Menschen mit Adipositas häufiger fälschlicherweise auf ihr Gewicht zurückgeführt werden, während ernsthafte Erkrankungen unentdeckt bleiben.

Eine 2017 in "Obesity Reviews" veröffentlichte Übersichtsarbeit zeigt, dass Gewichtsstigmatisierung das Risiko für Depressionen, Essstörungen und chronischen Stress signifikant erhöht (Puhl & Heuer, 2017). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass Stigmatisierung medizinische Versorgungspfade beeinflusst: Das bedeutet, dass Betroffene aus Angst vor Diskriminierung Arztbesuche vermeiden. Außerdem nehmen sie seltener Vorsorgeuntersuchungen wahr. Ironischerweise bewirken undifferenzierte Ratschläge zum Abnehmen oft das Gegenteil.

Gewichtsschwankungen und Jo-Jo-Effekt

Die Intention, eine Diät zu machen, ist in der Regel, das Gewicht zu reduzieren und dies am besten in möglichst kurzer Zeit. Die Befürworter solcher Diäten heben die Erfolge hervor und verweisen auf Testimonials, die erfolgreich abgenommen haben. Die Nachhaltigkeit solcher Diäten wird dabei oft unter den Teppich gekehrt. Studien belegen, dass 80-95% der Menschen innerhalb weniger Jahre nicht nur das verlorene Gewicht wieder zunehmen, sondern teilweise sogar noch mehr. Das Fatale daran: Dieser Jo-Jo-Effekt, auch Weight Cycling" genannt, ist gesundheitlich riskant, wie eine Metaanalyse von Montani et al. (2015) zeigt. So sind wiederholte Gewichtsschwankungen mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und dem metabolischen Syndrom verbunden.

Gewichtsneutrale Medizin zwischen Stigma und echter Hilfe

In dieser Folge von Bizeps und Bananenbrot sprechen David & Matti über ein Thema, das vielen Menschen im Gesundheitssystem begegnet, aber selten kritisch hinterfragt wird: Gewichtsneutrale Medizin. Warum wird Übergewicht oft vorschnell als Ursache für alle Beschwerden angenommen? Welche Risiken birgt diese einseitige Sichtweise für PatientInnen? Und wie sieht ein respektvoller, ganzheitlicher medizinischer Ansatz wirklich aus? Gemeinsam analysieren sie zwei fiktive, aber realitätsnahe Arztgespräche und zeigen, wie ein wertschätzender Umgang im Gesundheitswesen möglich ist – ohne Stigmatisierung, aber mit Empathie und medizinischem Weitblick.

Kommentar zum Körperselbstbild

Das Körperselbstbild ist, wie der Name schon sagt, ein Konstrukt zur Selbstbeschreibung eines Individuums in Bezug auf die äußeren Merkmale seines Körpers. Dabei geht es nicht um die rein kognitive Komponente, sondern um die emotionale Wahrnehmung. Personen mit einem positiven Körperselbstbild fühlen sich im wahrsten Sinne des Wortes wohl in ihrer Haut - ein negatives Körperselbstbild hingegen ist häufig mit Maßnahmen verbunden, dieses in eine positive Richtung zu lenken.

Die Bewertung des Körperselbstbildes wird stark von einer externen Komponente beeinflusst. Medien, Schönheitsideale und soziale Vergleiche geben vor, was positiv und was negativ ist. Ein Teil der Fitness- und Schönheitsindustrie, insbesondere in sozialen Medien, vermittelt normierte Schönheitsideale – oft mit einer instrumentellen Absicht - den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen. Dabei werden gezielt Emotionen angesprochen, um Konsumverhalten zu steuern. Wer nicht der Norm entspricht, findet wenig bis keine Beachtung oder wird wegen seines Aussehens angeprangert. Druck und Stigmatisierung führen zu psychischen Problemen und oft sind ungesunde Verhaltensweisen die Folge.

Ich bin der Meinung, dass niemand das Recht hat, uns vorzuschreiben, wie wir uns in unserer Haut fühlen sollen. Der Wille zur Veränderung sollte immer intrinsisch sein. Unabhängig vom Körpergewicht sollte das persönliche Wohlbefinden im Mittelpunkt stehen – dabei ist es wichtig, körperliche und psychische Gesundheit gleichermaßen im Blick zu behalten und das heißt nicht, dass Gesundheitsaspekte ignoriert werden sollten - zu einem gesunden Lebensstil gehören für mich Bewegung, ausgewogene Ernährung, Regeneration, Schlaf und soziale Stabilität. Aber all das hat nichts mit einem bestimmten Körperbild zu tun. Es geht nicht ums Aussehen – es geht ums Leben. Wahre Gesundheit beginnt dort, wo Selbstakzeptanz nicht auf später verschoben wird.

Was sagen objektive Studien zu Adipositas und Gesundheitsrisiken?

Wir dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass wir immer noch von Übergewicht sprechen, das erwiesenermaßen negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann. Der Body-Mass-Index wird oft kritisiert, weil er nur das Körpergewicht in Relation zur Körpergröße setzt. Er sagt also nichts über die Zusammensetzung des Körpers aus. Die Ursache für einen hohen Body Mass Index (BMI) ist jedoch nicht eine zu große Muskelmasse, sondern die vermehrte Einlagerung von Triglyceriden in Form von Unterhaut- oder Viszeralfett. Eine Studie mit über 190.000 Teilnehmern zeigt (Khan et al., 2018), dass ab einem BMI von 30 (Adipositas) das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen signifikant ansteigt. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) weist in ihrem aktuellen Ernährungsbericht 2023 auf einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Fettleber hin (DGE, 2023).

Darüber hinaus weist das Robert Koch-Institut (RKI) darauf hin, dass in Deutschland mehr als 60 % der Männer und etwa 50 % der Frauen übergewichtig sind, wobei etwa ein Viertel der Erwachsenen adipös ist. Diese Zahlen verdeutlichen die gesundheitspolitische Relevanz des Themas (RKI, 2022). Adipositas verursacht in Deutschland im Jahr 2025 geschätzte volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von 101,47 Milliarden Euro. Die Kosten verteilen sich auf Behandlungen, Arbeitsausfälle und Frühverrentung (Statista, 2023).

Auch das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) hat festgestellt, dass Übergewicht ein wichtiger Risikofaktor für Darmkrebs ist, insbesondere wenn es über viele Jahre besteht (DKFZ, 2023).

Ärztin misst den Blutdruck bei Patient

Gesundheit jenseits der Waage: Der Einfluss von Verhalten

In einer viel beachteten Studie von Matheson et al. (2005) konnte gezeigt werden, dass vier gesunde Verhaltensweisen - Nichtrauchen, regelmäßige körperliche Aktivität, moderater Alkoholkonsum und ausreichender Verzehr von Gemüse - das Mortalitätsrisiko unabhängig vom Gewicht signifikant senken. Normalgewichtige Personen mit ungesunden Verhaltensweisen hatten ein höheres Sterberisiko als übergewichtige Personen mit gesunden Verhaltensweisen. Suárez et al. (2024) stellten in ihrem Review fest, dass die Auswirkungen von Health-at-Every-Size-Interventionen unabhängig von einer signifikanten Gewichtsveränderung positive Effekte auf das allgemeine Wohlbefinden, das Körperbild und das Essverhalten haben können.

Dies ist ein Argument für die Betrachtung von Gesundheit als dynamisches Zusammenspiel vieler Faktoren und nicht als Reduktion auf eine Zahl auf der Waage.

Wie könnte gewichtsneutrale Medizin praktisch aussehen?

Im Podcast haben Matti und ich ein zweites Arzt-Patienten-Gespräch vorgestellt, in dem die Patientin unvoreingenommen angehört und umfassend untersucht wird. Es geht um Schlaf, Bewegung, psychische Belastung und welche Blutuntersuchungen dafür sinnvoll sind - nicht um das Gewicht. Dieses Vorgehen fördert ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis und kann die Therapietreue stärken.

Ein gewichtsneutraler Ansatz bedeutet nicht, die gesundheitlichen Risiken von Übergewicht zu ignorieren. Vielmehr wird anerkannt, dass eine nachhaltige Verhaltensänderung durch Motivation, Empathie und Selbstbestimmung besser gelingt als durch Schuldzuweisungen und Druck. Dieser Ansatz entspricht auch den Prinzipien der motivierenden Gesprächsführung.

Warum gewichtsneutrale Medizin Zukunft hat

Gewichtsneutrale Medizin bietet einen realistischen, menschenwürdigen und evidenzbasierten Ansatz zur Gesundheitsförderung. Gleichzeitig erfordert dieser Ansatz ein hohes Maß an Differenzierung und Verantwortungsbewusstsein. Es geht nicht darum, Übergewicht zu glorifizieren oder Gesundheitsrisiken zu leugnen. Es geht darum, Gesundheit als mehrdimensionales Konzept zu verstehen - und Menschen nicht auf ihr Gewicht zu reduzieren.

Die Forschung zeigt, dass Gewichtsstigmatisierung krank machen kann, während gesundes Verhalten auch ohne Gewichtsabnahme positive Auswirkungen hat. In der Praxis bedeutet dies: Verhalten statt Verurteilung. Anerkennung von Vielfalt statt Einheitsideal. Eine Medizin der Zukunft könnte darin bestehen, alle Menschen ernst zu nehmen, ihre individuellen Lebenswelten zu respektieren und gemeinsame Lösungen für Gesundheit zu entwickeln – jenseits der Waage.

David Klinkhammer

Über David Klinkhammer:

David Klinkhammer ist mit seinem Hintergrund als Sportwissenschaftler (B.A.), Fitness- und Athletiktrainer sowie Ernährungsberater, Tutor & Dozent an der Deutschen Sportakademie. Hier betreut & begeistert er die Studenten zu Themen wie Trainingsplanung- und Steuerung, Fitnesstraining in der Praxis, zielgruppenspezifische Trainingsplanung im Cardiotraining und Motivationstraining im Personal Training.

Als leidenschaftlicher Sportler und selbstständiger Fitnesstrainer bietet er Bootcamps und Athletiktrainings in Köln an. Abschalten kann er am besten beim Kochen, bei dem er seine kulinarische Inspiration überwiegend von den vielen Reisen durch Europa und Asien hernimmt.

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