Psychische Gesundheit bei Männern
von Da-Yong K (Mindfulife), 10/25, Lesezeit: 7 Minuten
Zwischen Rollenbildern, Schweigen und gesellschaftlicher Blindheit leidet die psychische Gesundheit vieler Männer im Stillen. Zeit, genauer hinzusehen – und Empathie dort zu zeigen, wo sie bisher gefehlt hat.
Oft wird in den Medien über Themen wie die Geschlechterlohnlücke berichtet, also darüber, dass Frauen im Nachteil gegenüber Männern stehen. Doch selten wird thematisiert, dass es auch zahlreiche „Lücken“ gibt, in denen Männer deutlich schlechter dastehen.
Viele dieser Lücken sind der Öffentlichkeit kaum bekannt oder werden nicht wirklich ernst genommen, obwohl sie sich still im Schatten der Gesellschaft vergrößern. Sie wirken sich negativ auf Millionen von Männern aus – von Einsamkeit über psychische Erkrankungen bis hin zur gesellschaftlichen Isolation. Diese Folgen betreffen nicht nur die betroffenen Männer selbst, sondern auch ihre Familien, Freunde und letztlich die Gesellschaft als Ganzes.
Darum ist es wichtig, genauer hinzusehen. Ziel dieses Blog-Artikels ist es, über diese oft übersehenen Kernthemen aufzuklären – mit besonderem Fokus auf die psychische Gesundheit von Männern.
Das verzerrte Bild vom Mann
„Männer fressen Dinge in sich hinein“ – solche Sätze klingen harmlos, haben aber einen problematischen Subtext: Sie schieben die Verantwortung für psychische Probleme allein den Männern selbst zu. Damit wird suggeriert, dass ihre psychische Gesundheit vor allem Folge persönlicher Sturheit, ihrer individuellen Überzeugungen und Einstellungen sind. Diese Sichtweise – Männer seien ja „selbst schuld” – kann psychische Probleme verschärfen und sie sogar davon abhalten, Hilfe zu suchen. Daher ist eine Fokussierung allein auf das Konzept der Männlichkeit viel zu eng. Sie blendet die sozialen, kulturellen und strukturellen Faktoren aus, die das Wohlbefinden von Männern maßgeblich beeinflussen.
Wer Männergesundheit wirklich ernst nimmt und umfassend verstehen will, muss daher auch über die individuellen Faktoren hinausblicken:
Geschlechterstereotypen von Männern
Geschlechterstereotype sind tief in unserer Gesellschaft verankert und zeichnen oft ein negatives Bild. Während Frauen häufig als „warm und fürsorglich“ gelten, werden Männer eher als „dominant und aggressiv“ stereotypisiert (Reynolds et al., 2020). Besonders sichtbar wird dies in der „Frauen-als-Opfer/Männer-als-Täter“-Dichotomie, bei der Männer oft als schurkische Täter und Frauen als hilflose Opfer dargestellt werden – unabhängig von den tatsächlichen Umständen. Solche Stereotype prägen nicht nur die Darstellung in den Medien, sondern beeinflussen auch Einstellungen über Männer in Politik, Schulen, im Gesundheitswesen und bei Behörden.
Beispiele reichen von strengeren Gerichtsurteilen für Männer über diskriminierende Fluglinienregeln bis hin zu politischen Entscheidungen, die Männer pauschal als Bedrohung einstufen. Dies macht deutlich, dass Männer schneller dämonisiert und häufiger misstrauisch betrachtet werden.
Durch solche Stereotype erfahren Männer nicht nur gesellschaftliche Vorurteile, sondern auch reale Nachteile im Gesundheitswesen, im Rechtssystem und im Alltag – eine klare Ausdrucksform der Gerechtigkeitslücke mit erheblichen Folgen für ihre psychische Gesundheit.
Geschlechter-Empathielücke
Die Geschlechter-Empathielücke ist ein reales, aber oft ignoriertes Phänomen: Frauen erfahren in unserer Gesellschaft meist mehr Empathie und Mitgefühl als Männer. Studien (wie Reynolds et al., 2020) zeigen, dass Männer seltener als Opfer wahrgenommen werden, ihr Leiden weniger moralische Empörung hervorruft und sie weniger Unterstützung erhalten.
Zum Beispiel stellen Männer die Mehrheit der Obdachlosen, Gefängnisinsassen und Arbeitsunfalltoten dar. Zudem zeigen Zahlen, dass ihre Lebenserwartung deutlich niedriger ist als die von Frauen (Arias & Xu, 2020). Trotzdem lösen diese Fakten kaum öffentliche Reaktionen aus. Auch im Bildungssystem sind Jungen benachteiligt – mit deutlich höheren Raten an Schulabbrüchen, Suspendierungen und Ausschlüssen. Während Milliarden in die Bildungsförderung von Frauen und Mädchen fließen, gibt es kaum vergleichbare Programme für Jungen – ein klarer Hinweis auf die Bildungslücke.
Die Ursachen liegen einerseits in Stereotypen, andererseits in biologischen Faktoren wie neotenischen Merkmalen, also „Niedlichkeitsmerkmalen“ (z.B. große Augen, hohe Stimme, geringere Muskelmasse), die bei Frauen mehr Schutzreaktionen auslösen. Hinzu kommen kulturelle Normen wie „Frauen und Kinder zuerst“, da Frauen durch Geburt einen größeren biologischen Beitrag leisten und daher als schutzbedürftiger gelten.
All dies trägt dazu bei, dass Männer oft als „das entbehrlichere Geschlecht“ gelten und weniger Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen – mit der Folge, dass ihr Leiden leider oft untergeht. Entsprechend werden politische und gesellschaftliche Maßnahmen häufig ohne Rücksicht auf die psychische Gesundheit von Männern und Jungen getroffen – ein klarer Ausdruck von Geschlechterblindheit.
Geschlechterblindheit bei Männern
Der Begriff „männliche Geschlechtsblindheit“, geprägt von den Psychologen Martin Seager und John Barry, beschreibt die Tendenz, Probleme und Benachteiligungen von Männern und Jungen zu übersehen oder nicht ernst zu nehmen. Während es zahlreiche Programme, Studien und politische Maßnahmen speziell für Frauen gibt, finden die Gesundheit und das Wohlbefinden von Männern deutlich weniger Beachtung. So wird in der Forschung „Frauengesundheit“ fast zehnmal häufiger thematisiert als „Männergesundheit“, und es gibt weltweit zahlreiche Frauenbüros und -kliniken – aber kaum vergleichbare Angebote für Männer.
Besonders deutlich zeigt sich diese Blindheit beim Thema häusliche Gewalt: Obwohl Umfragen belegen, dass auch Männer in erheblichem Ausmaß betroffen sind, gibt es für sie kaum Schutzräume oder Hilfsangebote. Viele berichten sogar, dass ihnen oft nicht geglaubt wird oder sie als Täter wahrgenommen werden. Hier wirken gleich mehrere Mechanismen zusammen – Stereotype („Männer sind Täter“), die Empathielücke (weniger Mitgefühl für männliches Leiden) und eine bewusste Blindheit gegenüber männlichen Opfern.
Was sind die häufigsten psychischen Erkrankungen bei Männern?
Im Folgenden ein Überblick über die häufigsten psychischen Erkrankungen bei Männern:
Depressionen und Burnout
Depressionen zählen auch bei Männern zu den häufigsten psychischen Erkrankungen – werden aber oft übersehen. Während Frauen eher klassische Symptome wie Traurigkeit oder Rückzug zeigen, äußert sich eine Depression bei Männern häufig in Reizbarkeit, Aggression, Risikoverhalten oder verstärktem Alkoholkonsum. Diese „maskierten“ Symptome passen nicht ins klassische Bild und bleiben daher oft unerkannt. Das erklärt auch das Paradox: Männer gelten statistisch als seltener depressiv, haben aber deutlich höhere Suizidraten.
Ein verwandtes Problem ist das Burnout, der sich meist schleichend im Arbeitskontext entwickelt: Leistungsorientierte Männer ignorieren Warnsignale wie Erschöpfung oder Schlafprobleme lange – bis Körper oder Umfeld Alarm schlagen.
Suchtverhalten
Sucht ist weit mehr als „falsches Verhalten“ – sie ist ein ernstes Gesundheitsproblem. Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen: Rund drei Viertel aller Suchterkrankungen entfallen auf sie, am verbreitetsten sind Alkohol-, Cannabis- und Medikamentenmissbrauch. Auch Verhaltenssüchte wie Glücksspiele oder Gaming sind typisch. Oft geht es darum, Stress, Versagensängste oder Einsamkeit zu betäuben. Die Folgen sind gravierend: Sucht erhöht das Risiko für körperliche Erkrankungen, psychische Belastungen sowie soziale Probleme wie Jobverlust, Schulabbrüche oder andere Krisen.
Suizidalität und Selbstverletzung
Besonders alarmierend ist die hohe Suizidrate bei Männern. Laut WHO werden weltweit etwa zwei von drei Suiziden von Männern verübt (WHO, 2018). In Europa sind es rund 80 % der vollendeten Suizide.
Viele Männer sprechen nicht über ihre Gedanken, fühlen sich ohne Ausweg oder möchten niemandem zur Last fallen. Selbstverletzendes Verhalten bleibt dabei nicht auf Jugendliche beschränkt: Auch erwachsene Männer greifen in Krisen zu riskanten oder selbstschädigenden Handlungen, um Druck abzubauen oder sich zu spüren.
Ein zentraler Faktor ist soziale Isolation und der Verlust von Sinn und Zugehörigkeit. Gerade weil Männer stark über ihre Rolle als Ernährer und Beschützer definiert werden, können Arbeitsplatzverlust oder Trennung besonders psychisch zerstörerisch wirken.
Warum suchen Männer seltener psychische Hilfe?
Psychische Erkrankungen betreffen Männer und Frauen gleichermaßen. Trotzdem nehmen Männer deutlich seltener professionelle Hilfe in Anspruch. Woran liegt das?
Ein wesentlicher Grund sind gesellschaftliche Vorstellungen von Männlichkeit. Ein „wahrer Mann“ soll stark, unabhängig und belastbar sein. Gefühle zu zeigen oder Hilfe zu suchen, gilt schnell als Schwäche. Wer leidet, schweigt daher oft lieber, anstatt sich verletzlich zu zeigen.
Hinzu kommt das Stigma rund um psychische Erkrankungen. Viele Männer empfinden Scham und Schuldgefühle, wenn sie erkranken – sie fühlen sich als Versager. Gleichzeitig werden sie gesellschaftlich häufig negativ gesehen: Männer mit psychischen Problemen gelten eher als unzuverlässig oder sogar gefährlich, im beruflichen Kontext schnell als Risiko. Nicht selten erleben sie, dass ihre Beschwerden verharmlost oder ihnen gar nicht geglaubt wird – auch innerhalb des Gesundheitssystems, wo Männer oft weniger ernst genommen werden.
Ein Problem liegt auch im System selbst: Viele Angebote sind stark auf Gespräche, Emotionen und Selbstöffnung zugeschnitten – etwas, womit sich viele Männer schwertun. Studien zeigen außerdem: Ärzte verbringen mit männlichen Patienten im Schnitt weniger Zeit, geben weniger Erklärungen und Ratschläge. Kurz gesagt: Viele Männer fühlen sich schlicht nicht abgeholt.
Dabei sprechen Männer häufig besser auf praktische, lösungsorientierte Ansätze an: Aktivitäten statt endloser Gespräche, gemeinsames Handeln statt Einzelkämpfertum. Projekte wie die „Men’s Sheds“ zeigen, wie es gehen kann: In Werkstätten, beim Handwerken oder bei Gartenarbeit entstehen Bindungen, Vertrauen und Sinn – ganz ohne Druck, über Gefühle zu sprechen. Der Fokus liegt auf Spaß, Lachen und Freundschaft, und psychische Gesundheit wird quasi „nebenbei“ gefördert. Passend dazu lautet das Motto der Männerschuppen: „Männer sprechen nicht von Angesicht zu Angesicht, sie sprechen Schulter an Schulter.“
Um mehr Männer zu erreichen, braucht es gerade so ein Umdenken: weniger Schuldzuweisungen, mehr ressourcenorientierte Angebote, die an männliche Stärken anknüpfen. Erst wenn psychische Gesundheit nicht länger mit Schwäche gleichgesetzt wird und Unterstützungsangebote ansprechender gestaltet sind, sinkt auch die Hemmschwelle für Männer, Hilfe tatsächlich in Anspruch zu nehmen.
Was können Männer selbst tun – und wie kann das Umfeld helfen?
Für Männer selbst
- Über Gefühle sprechen: Auch wenn es schwerfällt – schon ein Gespräch mit einem Freund, Partner oder Familienmitglied kann entlasten. Offenheit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Mut.
- Achtsamkeit & Selbstfürsorge: Meditationen, Atemübungen oder Spaziergänge helfen, Stress zu regulieren. Ebenso wichtig sind Schlaf, Ernährung und Bewegung – die Basis psychischer Gesundheit.
- Rollenbilder hinterfragen: „Ein Mann muss alles allein schaffen“ – solche Denkmuster ablegen. Besser ist es, den Fokus darauf zu legen, Unterstützung anzunehmen und Stärke darin zu sehen, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen.
- Alternative Wege nutzen: Wenn klassische Gesprächstherapie nicht anspricht, können praktische und gemeinschaftliche Ansätze wie Sportgruppen, Handwerksprojekte oder Initiativen wie Men’s Sheds eine niedrigschwellige Option sein.
Für das Umfeld
- Zuhören & ernst nehmen: Männer erleben oft, dass ihr Leiden bagatellisiert oder angezweifelt wird. Ein offenes Ohr ohne Vorurteile oder Schuldzuweisungen kann entlastend wirken.
- Empathielücke schließen: Das Leiden von Männern verdient genauso Mitgefühl wie das von Frauen. Ein bewusstes „Hinschauen“ ist entscheidend.
- Respektvolle Unterstützung anbieten: Konkrete Vorschläge und Hilfen, etwa einen Termin beim Hausarzt begleiten oder gemeinsam eine Selbsthilfegruppe besuchen, sind hilfreicher als Zwang und Belehrung.
- Geduldig bleiben: Männer öffnen sich meist langsamer. Drängen verstärkt Rückzug – Vertrauen und Kontinuität sind hilfreicher.
- Unterstützendes Arbeitsumfeld: Betriebliche Gesundheitsangebote, flexible Arbeitszeiten und eine offene, entstigmatisierende Kultur leisten einen wichtigen Beitrag zur Prävention und Bewältigung psychischer Belastungen.
Fazit:
Männergesundheit leidet noch immer im Schatten – verdeckt von Stereotypen, Empathielücken und gesellschaftlicher Blindheit. Die Folgen sind real. Statt Männern ihr Leiden als selbstverschuldet vorzuwerfen, müssen wir solche Klischees gemeinsam hinterfragen. Es braucht einen Perspektivwechsel: mehr Empathie, weniger Schuldzuweisungen und Versorgungsangebote, die an männliche Bedürfnisse angepasst sind – praktisch, gemeinschaftsorientiert und respektvoll.
Am Ende geht es nicht nur darum, Männer zu stärken, sondern auch das soziale Umfeld und die Gesellschaft insgesamt gesünder und stabiler zu machen.
Entscheidend ist daher Achtsamkeit – nicht nur im individuellen Umgang mit sich selbst, sondern auch gesellschaftlich: hinsehen, wo Männer leiden, und sensibel reagieren, statt wegzusehen.
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Links zu weiterführenden Themen von Mindfulife
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Über Da-Yong K.:
Da-Yong K. begann ihr Studium der Rechtswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo sie ihre Freude am präzisen Formulieren und Gutachtenschreiben entdeckte. Später wechselte sie zur Psychologie, um ihrer Leidenschaft für das Verständnis menschlichen Erlebens und Verhaltens zu folgen. Im Blogteam von Mindfulife vertieft sie ihre Schreibkompetenzen, indem sie psychologische Themen aufgreift und verständlich vermittelt. Mit einem geplanten Master in Rechtspsychologie möchte sie ihre juristischen und psychologischen Interessen sowie ihre Liebe zum Schreiben vereinen.
Literatur:
- Arias, E., & Xu, J. (2020). United States life tables, 2018. National Vital Statistics Reports, 69(12), 1–44.
- Klinik Friedenweiler. Psychische Gesundheit von Männern. Zuletzt abgerufen am 13. August 2025 von https://www.klinik-friedenweiler.de/blog/psychische-gesundheit-maennern/
- Reynolds, T., Howard, C., Sjåstad, H., Zhu, L., Okimoto, T. G., Baumeister, R. F., Aquino, K., & Kim, J. (2020). Man up and take it: Gender bias in moral typecasting. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 161, 120–141. https://doi.org/10.1016/j.obhdp.2020.05.002.
- Whitley, R. (2023). Männerthemen und psychische Gesundheit von Männern. Springer Nature Switzerland. https://doi.org/10.1007/978-3-031-42082-5
- World Health Organization (WHO). (2018). Mental health atlas 2017. World Health Organization.